"Kreativ sein können wir nur als breites Netzwerk der Solidarität, das insbesondere auf direkte Kontakte mit den 'People on the Move' sowie ihren Angehörigen angewiesen ist."

Zuerst veröffentlicht im September in Echoes Nr.8.

Quelle: Alarm Phone

Seit Oktober 2014 ist das WatchTheMed Alarm Phone (kurz: AP) als Hotline zur Unterstützung von Menschen in Seenot rund um die Uhr im Einsatz. Das AP-Netzwerk umfasst rund 300 ehrenamtliche Mitglieder in vielen Städten Europas und Nordafrikas und ist hauptsächlich auf vier Migrationsrouten aktiv: in der Ägäis zwischen der Türkei und Griechenland, im westlichen Mittelmeer zwischen Marokko und Spanien (einschließlich der Atlantikroute zu den Kanarischen Inseln), im Ärmelkanal zwischen Frankreich und dem Vereinigten Königreich und im zentralen Mittelmeer zwischen Libyen, Tunesien, Malta und Italien. In den letzten neun Jahren hat das AP rund 7.000 Boote auf diesen verschiedenen Routen begleitet und unterstützt. In den Jahren 2022 und 2023 kamen die meisten Anrufe aus dem zentralen Mittelmeerraum. Das folgende Interview konzentriert sich auf die Erfahrungen und Herausforderungen in dieser Region. Fünf Aktivist:innen von AP haben zu den folgenden Antworten beigetragen.

Könnt Ihr kurz beschreiben, wie Eure AP-Schichtarbeit im zentralen Mittelmeer aussieht, insbesondere jetzt im (Spät)Sommer 2023, wenn so viele Boote aus Tunesien und Libyen abfahren?

In den letzten Jahren ist das zentrale Mittelmeer wieder zu einer unglaublich stark frequentierten Route geworden, und die Zahl der Menschen, die in Italien ankommen, steigt seit 2019 Jahr für Jahr. Wir spüren diesen Anstieg direkt in unseren Schichten. In Schönwetterperioden werden wir täglich zu Dutzenden von Booten in Seenot alarmiert, und das ist natürlich eine extrem herausfordernde Situation.

Wenn uns die Boote nach ihrer Abfahrt aus Libyen anrufen, können wir oft den Kontakt aufrechterhalten, da sie ein Satellitentelefon an Bord haben. Auf diese Weise erfragen wir wichtige Informationen von den Booten, insbesondere ihre GPS-Position, die wir dann an die staatlichen Behörden und die zivile Flotte weiterleiten können.

Ganz anders verhält es sich mit den Booten, die von Tunesien aus starten. Hier haben die Menschen keine Satellitentelefone, und da die Mobilfunkabdeckung nur in Küstennähe besteht, können wir die Reisenden zumeist über längere Zeit nicht erreichen. Wir versuchen dann, die Boote nach ihrer Ankunft in Lampedusa zuzuordnen, aber das ist eine schwierige Aufgabe, denn es gibt immer wieder Tage, an denen über 40 Boote auf der Insel anlanden.

Wir sprechen mit vielen Überlebenden, nachdem sie Lampedusa sicher erreicht haben. Gleichzeitig erfahren wir oft erst später, dass einige Boote gekentert sind und Menschen ertrunken sind. Viele Boote, die Tunesien verlassen, sind aus Metall und die Insassen sehr gefährdet, weil diese innerhalb von Minuten sinken können.

Quelle: Alarm Phone

Alarm Phone ist ein Akteur mit einer sehr dezentralisierten Struktur mit vielen Schichtteams, die in verschiedenen Städten und Ländern arbeiten. Könnt Ihr Eure Struktur und Euer Konzept in ein paar Sätzen beschreiben?

Das AP ist ein Aktivist:innennetzwerk mit lokalen Teams an verschiedenen Orten, sowohl in Europa als auch in Afrika. Wir mussten uns daher eine Infrastruktur schaffen, die es uns ermöglicht, transversal und dezentral zu arbeiten. Wir erhalten oft Medienanfragen, in denen wir gefragt werden, wo unser “Hauptquartier” ist, und die Leute sind überrascht, wenn sie erfahren, wie wir arbeiten. Die Aufrechterhaltung einer Hotline Tag und Nacht erfordert ein flexibles System. Anrufe vom Meer aus werden an unsere Mitglieder weitergeleitet, die „on duty” sind. Kleine Schichtteams von mindestens zwei Personen, die Englisch und Französisch sprechen, sind also ständig verfügbar, um auf Notrufe zu reagieren. Alle Teams folgen Alarmplänen, die wir uns gemeinsam als Standardverfahren erarbeitet haben und die immer wieder an die Entwicklungen und Veränderungen in den jeweiligen Rettungszonen angepasst und erweitert wurden.

Wir haben zudem viele Mitglieder, die keine Telefonschichten machen, sondern wichtige andere Aufgaben übernehmen, wie z.B. die Verteilung der Nummer an die migrantischen Communities in Marokko oder die Aufklärung über die Gefahren der Seeüberquerung.

Wir haben auch unzählige Arbeitsgruppen, die für die Durchführung unserer Arbeit benötigt werden: technische Unterstützung, Übersetzungen, regionale Expertise und Forschung, Medien und Dokumentation, Zusammenarbeit mit anderen Akteuren, Suche nach Vermissten und so weiter.

Welche Unterschiede gibt es bei Eurer Arbeit mit den Booten aus Tunesien und denen aus Libyen?

Wie oben bereits erwähnt, haben die Boote aus Tunesien in der Regel keine Satellitentelefone, um auf See zu kommunizieren, und wir sind daher sehr auf Informationen angewiesen, die uns von Verwandten und Freund:innen an Land übermittelt werden. Die Bedingungen für die Menschen, die von Sfax oder Zarzis aus unterwegs sind, ändern sich schnell und haben sich aufgrund der schrecklichen politischen Entwicklungen der letzten Monate sehr verschlechtert. Wir haben die Razzien und Pogrome gegen schwarze Menschen nach der rassistischen Rede des tunesischen Präsidenten Kais Saied im Februar 2023 erlebt. Menschen auf der Flucht werden in Wüstenregionen abgeschoben, und die brutalen Grenzkontrollen sind nach dem tunesischen Abkommen mit der EU und Italien im Juli weiter eskaliert. Als AP haben wir Mitglieder und gute Freund:innen in Tunesien, die die Situation kontinuierlich dokumentieren, die versuchen, die rassistischen Übergriffe zu skandalisieren, und die praktische Solidaritätsstrukturen zur Unterstützung der Betroffenen sowie der öffentlichen Proteste vor den Büros von UNHCR und IOM aufbauen.

Aus Libyen haben wir weitaus weniger Quellen, die uns vor Ort informieren, aber es gibt Menschen, die sich an uns wenden, nachdem sie Push-Backs (illegale Rückschiebungen) auf See erlebt haben. Wir unterstützen auch Refugees in Libya, eine selbstorganisierte Flüchtlingsbewegung, die 2021/22 unglaublich starke Proteste in Tripolis durchführte. Einige Mitglieder schafften es später nach Europa und setzen sich nun dafür ein, den Stimmen und Forderungen der Menschen auf der Flucht mehr Gehör zu verschaffen, die immer noch von libyschen Milizen inhaftiert oder vom UNHCR auf der Straße zurückgelassen werden.

Im Oktober 2023 wurde das AP neun Jahre alt. Könnt Ihr einige der wichtigsten Entwicklungen in Eurer Arbeit im zentralen Mittelmeerraum in dieser Zeit hervorheben?

Die Idee für unser Hotline-Projekt entstand als Reaktion auf den Schiffbruch vom 11. Oktober 2013, als die italienische und maltesische Küstenwache die SOS-Rufe eines Bootes ignorierte und 268 Menschen sterben ließ. Inspiriert wurden wir von Father Mussie Zerai, einem italienischen Priester mit eritreischem Hintergrund, dessen privates Telefon sich in eine Hotline für Geflüchtete aus Ostafrika verwandelt hatte – viele Jahre bevor wir an AP dachten. In den ersten Jahren der AP-Arbeit im zentralen Mittelmeer konnten wir nur durch Father Zerai Kontakte zu den Booten aufbauen. Er erhielt viele Anrufe von Booten in Seenot und leitete diese Fälle dann an die italienische Küstenwache und an uns weiter. Wir übernahmen dann die Betreuung dieser Boote und versuchten, für ihre Rettung zu mobilisieren.

Nach dem italienisch-libyschen Memorandum of Understanding, das 2017 vom sozialdemokratischen Minister Minniti umgesetzt wurde, trat ein neues Pull- und Push-Back-System in Kraft. Salvini wurde 2018 Innenminister Italiens und versuchte, die Überfahrten gänzlich zu verhindern. Zu dieser Zeit, als sich die AP-Nummer in Libyen und anderswo verbreitete, meldeten sich immer mehr Geflüchtete direkt bei uns. Spätestens seit 2019 fand sich das AP zunehmend in der Rolle einer “Rettungskoordinierungsstelle” wieder, die viele Anrufe von Booten und Angehörigen an Land entgegennahm, die versuchte, die EU-Behörden zur Durchführung von Rettungsaktionen zu bewegen, und die sich mit der zivilen Flotte koordinierte, um sicherzustellen, dass die Menschen nicht dem Tod überlassen wurden.

Alarm Phone Demonstration in Brüssels, Juni 2023. Quelle: Alarm Phone

Rund um die Uhr im Einsatz zu sein und auf komplexe und ständig wachsende Notsituationen zu reagieren, klingt nach einer sehr stressigen Aufgabe. Wie schaffen Ihr das innerhalb Eures Aktivist:innennetzwerks?

Unsere Arbeit ist in der Tat herausfordernd und nur zu stemmen, weil wir so viele im Netzwerk sind. Einige von uns sind aktiv, seit wir das Projekt 2014 gestartet haben. Unser Aktivismus hängt vom Austausch von Wissen und Fähigkeiten sowie von der horizontalen Aufteilung der Verantwortlichkeiten unter uns ab. Wir brauchen viele Schultern, um unsere Arbeit gemeinsam zu tragen. Regelmäßige persönliche Treffen zweimal im Jahr sind für uns besonders wichtig. Wir treffen uns auf beiden Seiten des Mittelmeers, damit trotz der strengen europäischen Visabestimmungen so viele von uns wie möglich zusammenkommen können. Wir brauchen diese Treffen, um uns auszutauschen und über die aktuellen Entwicklungen der Situation im Mittelmeerraum zu diskutieren.

In den letzten Jahren haben wir uns auch verstärkt mit Fragen der Erschöpfung, des Traumas und der Selbstfürsorge beschäftigt. Es ist erstaunlich zu sehen, welche Unterstützungsstrukturen wir im Laufe der Jahre aufbauen konnten und dass wir mit den Herausforderungen, mit denen wir konfrontiert waren, wachsen konnten. Aber wir können nur als breites Netzwerk der Solidarität kreativ sein, das insbesondere auf Informationen von den „People on the Move“ und ihren Angehörigen angewiesen ist, die rund um den Globus verteilt sind.

In direktem Kontakt mit Menschen zu stehen, die sich in verzweifelten Situationen auf dem Meer befinden, und zu wissen, dass einige von ihnen später ertrunken sind, muss belastend sein. Wie geht Ihr mit solchen Erfahrungen um?

Wenn die europäische Küstenwache nicht auf Boote in Seenot reagiert und die Schiffe der zivilen Flotte nicht vor Ort sind, ist es besonders schwierig, den vom Ertrinken bedrohten Menschen zu helfen. Während wir versuchen, die Behörden zur Rettung zu drängen, bleiben wir in regelmäßigem Kontakt mit den Menschen an Bord, um sie psychologisch zu unterstützen und ihnen Hoffnung zu geben. Dies hilft ihnen oft, sich nicht allein und verlassen zu fühlen, und wir versuchen, sie in solchen traumatischen Situationen zu stärken.

Tatsächlich werden wir fast täglich mit dem Tod auf See konfrontiert. Angehörige und Überlebende wenden sich oft an uns, um Schiffsunglücke und vermisste Personen zu melden. Und manchmal sind wir die letzten, die die verzweifelten Stimmen hören, bevor der Kontakt abbricht und sie im Meer verschwinden. Natürlich gehen AP-Mitglieder mit solchen Situationen sehr unterschiedlich um. Manchmal pausieren Betroffene bei der direkten Schichtarbeit oder suchen nach traumatischen Erlebnissen sogar gänzlich Abstand zum Netzwerk. Wir versuchen, als lokale und transnationale Teams zu arbeiten, damit niemand mit einer solchen Erfahrung oder der quälenden Frage allein gelassen wird, ob wir als AP mehr oder etwas anderes hätten tun können, um einen solchen Ausgang zu vermeiden. Wir versuchen auch, gemeinsam zu reflektieren und zu trauern, indem wir uns zum Beispiel nach Schiffsunglücken online treffen oder Kerzen anzünden, um der Vermissten und Toten zu gedenken. Wir sind regelmäßig an Veranstaltungen beteiligt, in denen wir gegen das EU-Grenzregime protestieren, das für das Massensterben auf See verantwortlich ist. Und gemeinsam mit Angehörigen und Überlebenden organisieren wir CommemorActions und gehen mitunter auch juristisch gegen staatliche Akteure wegen unterlassener Hilfeleistung und einer Politik des Sterbenlassens vor.

Action in Amsterdam, Dezemeber 2022. Quelle: Alarm Phone

Ihr habt die koordinierende Rolle von AP erwähnt: Wie bewertet Ihr den Prozess der Zusammenarbeit innerhalb der zivilen Flotte in den letzten Jahren? Was funktioniert gut, was fehlt aus Eurer Sicht noch?

Da die offiziellen Rettungskoordinationszentren (RCC) Italiens und Maltas ihre Zusammenarbeit mit den libyschen Milizen und den tunesischen Behörden intensiviert haben, um die Ankunft von Geflüchteten in Europa zu verhindern, werden die zivilen Akteure mit der Durchführung von Rettungsmaßnahmen, insbesondere vor den libyschen Küsten, im Grunde genommen allein gelassen. Aus unserer Sicht hat sich die Zusammenarbeit zwischen den vielen größeren und kleineren NGOs mit zum Teil unterschiedlichen politischen Hintergründen und Erfahrungen in den letzten Jahren sehr gut entwickelt. Die Kommunikation und Koordination zwischen den Akteuren, die auf See, in der Luft und am Telefon arbeiten, ist effektiv und oft erfolgreich, auch im Wettlauf gegen das Push- und Pull-Back-Regime. In den letzten Monaten haben wir festgestellt, dass der Situation an Land nach der Ankunft der Boote mehr Aufmerksamkeit gewidmet wird. Dies zeigt ein wachsendes Bewusstsein für die oft schwierigen Situationen, mit denen die Menschen in Italien und Europa konfrontiert sind, sei es im Asylverfahren oder durch die zunehmende Kriminalisierung.

Die Schiffe der zivilen Flotte sind in der Regel mehrere Tage pro Mission und oft nur wenige Male im Jahr im Einsatz. Darüber hinaus werden einige von ihnen durch die italienischen Verwaltungsmaßnahmen blockiert und durch die Politik der weit entfernten Häfen und die Verpflichtung, nach einer Rettungsaktion sofort in den Hafen einzulaufen, in ihren Operationen behindert. Die Kleinflugzeuge (Seabird von Sea-Watch und Colibri von Pilotes Volontaires) sind regelmäßiger einsatzbereit, befinden sich aber manchmal in der Wartung. Da AP der einzige Akteur ist, der das ganze Jahr über im Mittelmeer präsent ist, müssen wir oft auf Handelsschiffe zurückgreifen und auf deren Hilfe hoffen, wenn die zivile Flotte nicht verfügbar ist. Aber Handelsschiffe sind keine zuverlässigen Akteure. Ob sie auf Notsituationen reagieren und die Geretteten nach Europa bringen oder sie durch “Push Backs by Proxy“ (Rückschiebungen in Stellvertretung für die Behörden) nach Libyen zwingen, hängt von den Kapitänen und deren Unternehmen ab.

Wo sehet Ihr auf operativer Ebene derzeit die größten Herausforderungen für die „People on the Move“ und damit auch für Euch als Notrufzentrale?

Das genannte Push- und Pull-Back-Regime, das zwischen den EU-Mitgliedstaaten, Libyen und Tunesien eingerichtet wurde, bleibt die größte Herausforderung im zentralen Mittelmeer. Der Einsatz von Frontex-Flugzeugen und Drohnen ist ein entscheidendes Mittel, um das Abfangen von Booten, die aus der Luft gesichtet wurden, schnell zu orchestrieren.  Auch für uns als AP ist es heutzutage sehr schwierig, das wahre Ausmaß “erfolgreicher” Push-Backs abzuschätzen. In der SAR-3-Region, der östlichen Region zwischen Benghazi und Tobruk, haben wir es seit einigen Monaten auch mit einem neuen Akteur zu tun, einer Miliz namens Tareq Bin Zayed Brigade. Sie operiert mit einem großen und schnellen Schiff, deren Einsatz vermutlich eng mit den italienischen und maltesischen Behörden abgestimmt ist, um Abfangaktionen auch weit innerhalb der maltesischen SAR-Zone zu organisieren.

Auch in Anbetracht des neuen EU-Tunesien-Abkommens befürchten wir eine weitere Militarisierung und Brutalisierung der tunesischen Grenztruppen, die mit allen Mitteln die Boote zu stoppen versucht, die von Sfax und anderen tunesischen Städten abfahren wollen. In Verbindung mit der Kriminalisierung der Migration selbst, die sich insbesondere gegen Bootsfahrer richtet, verschärft sich die Abschreckungspolitik weiter und hat zur Folge, dass die zentrale Mittelmeerpassage eine der tödlichsten Migrationsrouten der Welt bleibt.

Was befürchtet, aber auch was erhofft Ihr Euch angesichts dieser Entwicklungen für den Rest dieses Jahres und für 2024?

Die EU-Mitgliedstaaten verhandeln weiterhin mit Tunesien und Libyen über Abkommen und Vereinbarungen zur Bekämpfung der Migration, und wir sehen die Folgen sehr deutlich: gewaltsame Massenabschiebungen entlang der Landgrenzen, auch in der Sahara, wo es fast keine Zeug:innen gibt, brutale Abfangaktionen auf See und so viele Tote und Verschwundene. Die Zunahme solch staatlicher Bordercrimes (Grenzverbrechen) erleben wir bereits und wir befürchten, dass es weiter eskalieren wird. Die Unterstützung autoritärer Regime und Diktatoren durch die EU hat eine lange Geschichte und Tradition, sei es in Tunesien, Libyen, Ägypten oder anderswo – und es gibt keine Anzeichen dafür, dass sich dies in naher Zukunft ändern wird. Die Grenzen Europas werden weiter nach außen verlagert, was die Menschen auf noch tödlichere Routen zwingt. Auch innerhalb Europas verschlechtert sich die Lage, da Abschiebungen zunehmen und das Asylsystem immer restriktiver wird.

Um eine hoffnungsvollere, oder “possibilistische” Perspektive aufzumachen: Mit mehr als 125.000 Menschen (Stand bis September 2023), die über das zentrale Mittelmeer nach Italien gekommen sind, könnten wir dieses Jahr einen neuen Ankunftsrekord erleben. Das ist bemerkenswert, denn es geschieht trotz der “postfaschistischen” Regierung Italiens und der Brutalisierung der EU-Abschreckungspolitik. Wer hätte sich einen solchen Anstieg der Ankünfte im Jahr 2019 vorstellen können, als es nur 11.471 Menschen gelang, das Meer nach Italien zu überqueren? Und wer hätte im Sommer 2022 erwartet, dass ein Jahr später die Überfahrten aus Tunesien sprunghaft ansteigen und die Menschen das Hotspot-System in Lampedusa regelrecht “überrennen” würden? Wer hätte gedacht, dass im August 2023 einige Menschen es in fünf Tagen von Sfax nach Marseille schaffen könnten?

Tausende sterben und leiden weiter, ja. Das ist die grausame Realität, ein unerträgliches Verbrechen, die Folge einer grausamen Abschreckungsstrategie. Aber dass die Migrationsbewegung sich nicht stoppen lässt, ist auch eine Realität. Einmal mehr erweisen sich die Autonomien der Migration als kreativer und stärker als das EU-Grenzregime. Wir kennen die Zukunft nicht, aber wir werden weiterhin der Hartnäckigkeit der Kämpfe für Bewegungsfreiheit folgen und uns mit den Menschen solidarisieren, die Tag für Tag auf den verschiedenen Seerouten unterwegs sind!

Lampedusa, Juli 2023. Quelle: Alarm Phone